Samstag, 28. Dezember 2013

Lernerfordernisse im Alltag 1: Hitler und die Schnitzeltage

Um sich klarzumachen, welche Anforderungen an Erfahrungswissen unser Alltag heutzutage stellt und was das für den individuellen Wissenserwerb bedeutet, brauche ich nur zu schauen, was mir der Alltag so bietet. 
Zum Beispiel: Ich sitze heute morgen beim Brunchen in einer dieser Großraumlokalitäten und an faktisch jeder Wand hängen ein bis zwei Flachbild-Monitore. Ohne Ton (der ansonsten den Umgebungs-Schallpegel von vermutlich 85 dBA übertönen müsste) lässt von dort munter n-tv oder irgendein anderer Nachrichtensender Bilderfluten auf die Zuschauer niederprasseln. Der Bildschirm ist dabei so aufgeteilt, dass der rechte und der untere Bereich gleichzeitig Werbung für den Systemgastronomen bereitstellt. Tja, und da sieht man dann (hören tut man ja nix) irgendwas mit Hitler und Krieg an der Ostfront und liest die Ankündigung "Bei uns wird geböllert - Reservierung am Tresen". Vermutlich steht dort Stalin. Wenig später: KZ-Befreiung und der Hinweis auf die "Schnitzelstunden jeden Freitag". Um hier juristisch sauber zu bleiben: Ich habe mir das nicht ausgedacht.


Ein ähnlich gelagerter Fall: Wenn man da nicht ins Schwimmen kommt.
Quelle: 
http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/fast-food-plagiat-in-thailand-hitler-restaurant-empoert-kfc-1.1715097 

Nehmen wir nun einmal an, mein Erfahrungswissen würde in diesem Moment nicht so weit gediehen sein, dass ich Filmdokumentation vom Werberand komplett unterscheiden könnte: Käme ich nicht in einen Zustand emotionaler Verrohung? Anders gefragt: Hat Hitler und Krieg und Vernichtung den gleichen Stellenwert wie Schnitzel und Böllerei? Was weiß ich eigentlich über Hitler, über Böllerei zu Silvester und Schnitzel? Die emotionale Konnotation setzt hier doch schon viel an Faktenwissen voraus.
Letztendlich ist es am abendlichen Fernseher ja nicht anders: Nachrichten über Syrienkrise und Tsunamikatastrophen in fast nahtloser Folge zu der Wahl von Tanz-, Gesang- oder Luftballonwettknoterei-Battles.
Wobei ... doch es gibt einen Unterschied: Das Fernseh-Beispiel gibt mir wenigstens noch die Chance, den Informationsunterschied durch das zeitliche Hintereinander zu erkennen. Im Gastronomiebeispiel ist es jedoch die visuelle Gleichzeitigkeit, die von mir verlangt, die Information am Bildrand (Werbung) von der Information in der Bildschirmmitte (die Geschichtsdoku) zu trennen. Ich muss also sehen: Die Doku-Bilder in schwarz-weiß sind historisches Bildmaterial über einen Diktator, der Bildrand jedoch bezieht sich auf den aktuell besuchten Ort. 
Junge, Junge, da darf man kein Amöbengehirn haben, um die Involvierung verschiedener Großhirnareale für verschiedene Kontexte sauber zu trennen.
Mein Gehirn muss erkennen: Ich sitze hier in einer Großraumgastronomie, deren Betreiber diese Monitore aufgehängt hat und offensichtlich in der Lage ist, fremde TV-Beiträge, beispielsweise historische Dokumentationen und eigene Werbung auf ein und den selben Bildschirm zu projizieren. Aber nur die Werbung am Bildrand hat mit der Lokalität zu tun, während der TV-Beitrag nur zufällig (und das behaupte ich jetzt einmal, um mein Menschenbild des Betreibers nicht zu gefährden) Hitler und Krieg und Vernichtung beinhaltet.
Ujujui, das zu erkennen, dafür lohnt es sich doch schon, einige Jahre in die Schule zu gehen. Ansonsten käme man doch in Zweifel um den Zustand der Gesellschaft, oder?