Mittwoch, 12. März 2014

Intelligenztestung bei LRS / Rechenschwäche: Inklusion und die Frage welche Funktion kann der IQ erfüllen?

Hatte ich in meinem vorletzten Blog-Beitrag (http://schulpsycho.blogspot.de/2014/02/rechenschwache-nur-diskrepant-oder-auch.html) noch dargelegt, warum die Diskrepandefinition zumindest bei dem Thema Diagnose von Rechenschwierigkeiten strittig ist (zur Definition und den Unterschieden vom ICD 10 zum DSM V siehe auch: http://www.aerzteblatt.de/archiv/132184/Diagnostik-und-Intervention-bei-Rechenstoerung), so bewegt mich nun im beruflichen Alltag die Frage, was der Verzicht auf eine Intelligenzmessung für Konsequenzen im Kontext schulpädagogischer Maßnahmen in- und außerhalb der Teilhabe von Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen bedeutet.
Im Rahmen der Inklusionsbestrebungen des Landes NRW ist es von der Elterninitiative abhängig, ob ein AOSF, also eine sonderpädagogische Begutachtung eines Schülers vorgenommen wird. Dabei ist mit der erweiterten Schuleingangsphase die Möglichkeit geschaffen, Grundschüler ein zusätzliches Jahr in der Eingangsphase zu halten, um auf seinen individuellen Förderbedarf reagieren zu können.
Schüler mit erhöhten Förderbedarf landen hier nicht selten in der Schulpsychologischen Beratungsstelle, um eine LRS oder Rechenschwäche zu diagnostizieren und bei ursächlich damit in Verbindung stehender drohender seelischer Behinderung auch eine außerschulische Lerntherapie finanziert zu bekommen (§ 35a KJHG).
Nun kann man eine umfassende sonderpädagogische Untersuchung auch in einer Beratungsstelle vornehmen, so dass man den Umfang des Förderbedarfs ermitteln kann. Es bleibt aber die Frage, ob die Zuständigkeiten hier klar geregelt sind. Zu beobachten ist, dass vor allem in Klassen ohne gemeinsamen Unterricht Kinder mit vermuteten erhöhten Förderbedarf eher beim Schulpsychologen vorgestellt werden. Vor dem Hintergrund, dass diese ersten zwei Grundschuljahre auch das wichtige Fundament für den Schriftsprach- oder Rechenerwerb bilden, erscheint es auch wichtig, dass hier genau hingeschaut und diagnostiziert wird, unabhängig davon, ob dies ein Sonderpädagoge oder Psychologe vornimmt.
Allerdings: Primär sollte die Schule den schulischen Förderbedarf ermitteln und die Schulpsychologie vornehmlich die Frage nach einer § 35a KJHG-Förderung klären oder die  Abklärung zur Schule ergänzender Maßnahmen vornehmen.
Eine Rechenstörung (oder LRS) sollte dabei klar von einer generalisierten Lernstörung abgegrenzt werden. Kann aber die Intelligenztestung einen Beitrag zur diskriminanten Validität der Diagnose Rechenstörung beitragen? Hier ist zu berücksichtigen, dass sich gerade auch vor dem Hintergrund der Inklusionsbestrebungen die Fragestellung wandelt: 
Es geht nicht mehr um die Frage der Selektion und damit der Wahl des richtigen Schulortes (Regel- oder Förderschule), sondern um eine präzise Beschreibung des Förderbedarfs, um geeignete Förderempfehlungen zu geben. Es geht also um die Diagnose von Lese-, Rechtschreib- oder Zahl- und Rechenkompetenzen bzw. den spezifischen Vorläuferfähigkeiten (phonologische Bewusstheit bzw. Mengen- und Zahlbezogenes Vorwissen) oder kognitiven Lernvoraussetzungen wie z. B. Kurzzeitgedächtnis und schlussfolgerndes Denken. Hier können mehrdimensionale Intelligenztests ihren Beitrag leisten, allerdings nicht im Sinne einer Erhöhung der diskriminanten Validität der Rechenstörungsdiagnose (oder LRS), sondern zur Beschreibung von Förderschwerpunkten.
Für die Praxis kann also die Intelligenztestung dann sinnvoll sein, wenn schulische Indizien für mehr als eine Schwäche im Mathematik- oder Schriftsprachbereich vorliegen, ein erhöhter Förderbedarf also vermutet wird. Liegt dieser vor, dann kann eine sonderpädagogische Förderung im Rahmen der Schule und des gemeinsamen Unterrichts sinnvoll sein.
Auch kann die Intelligenztestung sinnvoll sein, um Vorläuferfähigkeiten oder kognitive Teilfunktionen für den jeweiligen Erwerbsprozess zu prüfen, allerdings nur dann, wenn diese Befunde auch Relevanz für die konkreten Fördermaßnahmen besitzen. Es geht also nicht um eine klassifikatorische Diagnostik, sondern um eine prozessorientierte.
In dieser Sichtweise ist die Intelligenztestung nicht zwingend erforderlich. Wenn die Schule ihre Förderdiagnosen und Fördermaßnahmen beschrieben hat und zum Ergebnis kommt, dass alle schulischen Förderoptionen ausgeschöpft sind und eine zweite Meinung von Seiten der Schulpsychologie sinnvoll sowie eine Einschätzung der möglichen seelischen Beeinträchtigung erforderlich ist, kann die Intelligenztestung dann hilfreich sein, wenn sich daraus neue konkrete Fördervorschläge ergeben. Für den alleinigen Vorstellungsgrund "LRS oder Rechenschwäche: ja oder nein?" bei gleichzeitiger schulischer Sensibilität für die Lernerfordernisse des Schülers ist eine Intelligenztestung nicht erforderlich. Damit hier alle an einem Strang ziehen kann es hilfreich sein, wenn Schule und Eltern gemeinsam den Auftrag an die Schulpsychologie formulieren.